Neue Szenen – Deutsche Oper Berlin

Sicht III „Wie man findet, was man nicht sucht“

Inszenierung von Michael Höppner
Kritik zum Stück im Tagesspiegel: www.tagesspiegel.de/kultur/die-mutbuergerin/8041218.html

Bilder von der Presseprobe (April 2013)

 

 

 

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Michael Höppner zu seiner Inszenierung

Sehr sehr oft kommen Mitglieder des Deutschen Bundestages in die Redaktion der Nowaja Gaseta zu uns, auf eigenen Wunsch, mit Reportern, Fotografen und allem. Sie melden sich an, sie möchten mit uns ein Gespräch haben. Wir nehmen uns die Zeit, setzen uns hin, führen stundenlange Gespräche mit ihnen, erklären ihnen Russland von A bis Z, von vorne bis hinten, und was ist das Resultat? Es passiert nichts, rein gar nichts. Sobald es um konkrete Fragen geht, um einen aktiven Beitrag, flüchten sie sich in hohle Phrasen, schließlich haben unsere Schilderungen den Bedarf an politischer Exotik bereits gedeckt. (A. Politkowskaja, 2004)

Das Leben, Wirken und der gewaltsame Tod Anna Politkowskajas schienen mir zunächst in Form einer klassischen Märtyrerlegende darstellbar zu sein: Eine Frau, die ihre Aufgabe höher stellte als ihr Leben, die sich für ihre Überzeugung opferte, die nicht bloß im Beruf, sondern an ihrer Berufung starb, allen Gefahren und ihren Feinden die Stirn bot, in die man schoss, und die ihre Ermordung in Ausübung einer selbst auferlegten Pflicht in Kauf nahm.

Meiner Ansicht nach macht das den Kern unserer Faszination für Anna Politkowskaja aus. Die Empörung über die mutmaßlichen Täter und die Verzückung über ihre Passion halten sich die Waage. Die Begeisterung für Anna Politkowskaja und die Anteilnahme an ihrem Schicksal sind in der westlichen Medienöffentlichkeit allgemein und ungeteilt. Alle Nachrufe, Preisreden und Meldungen zeugen davon. Die Verehrung und Lobpreisung dieser beeindruckenden Journalistin ist sogar derart überschwenglich und einhellig, dass man sich unwillkürlich fragt, ob sich darin nicht mehr ausdrückt, als bloß das ins Mythische überhöhte Heldentum einer konkreten Person.

Märtyrer sind immer Vorbilder, die eine gesellschaftliche Funktion erfüllen und kollektive Bedürfnisse befriedigen. Märtyrerlegenden verraten daher mindestens genauso viel über diejenigen, die sie verbreiten und an sie glauben, wie über die Märtyrer selbst. Meine Vermutung ist, dass Märtyrer Stellvertreterfiguren sind, deren Handeln, Leiden und gewaltsamer Tod für etwas einstehen bzw. etwas stellvertretend vollziehen, was denen, die das Martyrium bewundern, nicht gelingen will, was sie vielleicht sogar unterlassen. Märtyrer sind sozusagen Handlungsbevollmächtigte und Leidensbeauftragte. In diesem Sinne bestünde die Vorbildfunktion des Märtyrers also gar nicht in einem Appell, es ihm gleich zu tun oder in seinem Sinne zu handeln, sondern im Gegenteil darin, gerade nicht so handeln zu müssen, weil ein bestimmtes, zumeist unangepasstes und widerständiges aber gleichsam notwendiges Handeln für einen bereits erledigt und mit dem Leben bezahlt wurde. In diesem Fall ersetzt die Würdigung des Martyriums dessen Nachvollzug. Hierbei handelt es sich zugegebenermaßen um eine friedliche und zivilisierte Form des Märtyrerkults, unproblematisch ist sie deshalb nicht.

Im konkreten Fall denke ich nämlich, dass Anna Politkowskaja gerade deshalb wie eine Heilige verehrt wird, weil sie als Journalistin etwas auf sich nahm, was die große Mehrheit der Journalisten nicht mehr imstande oder willens ist zu leisten, wofür der politische Journalismus in unserem Verständnis aber steht: eine kritische, unabhängige und allein der Wahrheit verpflichtete öffentliche Kontrolle und Korrektur der Macht zu sein; und zwar nicht allein in Diktaturen, sondern auch und gerade in Demokratien. Meiner Ansicht nach verschwindet dieser ideale Anspruch zunehmend hinter den heutigen Praktiken der herrschenden Medienindustrie, die zum Marktplatz des bloßen Infotainment geworden ist, aber keinesfalls mehr kritische Öffentlichkeit im emphatischen Sinne herstellt. Jedenfalls stelle ich mir unter kritischem politischen Journalismus etwas anderes vor, als beispielsweise mit gleichgeschalteten Kampagnen unliebsam gewordene Politiker durch Enthüllungen lächerlicher Affären zum Rücktritt zu zwingen.

Im kollektiven Betroffenheitsreflex angesichts des Todes Anna Politkowskajas wird nun der Versuch unternommen, die verlorene Berufsehre hochzuhalten: Hier hat eine für uns im Namen längst vergessener Ideale gehandelt und das mit dem Leben bezahlt. Die Anbetung ihrer Unbestechlichkeit lässt dabei die eigene Korrumpierbarkeit, die Verherrlichung ihrer kompromisslosen Kritik den eigenen Opportunismus vergessen. Hinter der Rühmung ihrer radikalen Wahrheitssuche verschwinden die eigenen Halbwahrheiten und Lügen, ihre Tugend überstrahlt die eigene Gewissenlosigkeit. Die Anklage ihrer mächtigen Feinde tröstet darüber hinweg, dass man selbst zu den Mächtigen gehört.

So sonnt sich der Journalistenstand im Heiligenschein einer Kollegin, der auch noch die Tatsache überstrahlt, dass es ihresgleichen unter Journalisten kaum mehr gibt. Zumindest haben wir mit Anna Politkowskaja eine Märtyrerin, mit der wir uns identifizieren können im Gegensatz zu jenen Märtyrerinnen, mit denen sie im Moskauer Dubrowka-Theater über die Freilassung von Geiseln verhandelte und die den mächtigen Medien als Komparsen bei der Inszenierung einer profitablen Drohkulisse namens Internationaler Terrorismus dienen.

So nachvollziehbar die Heiligenverehrung der Anna Politkowskaja ist, so problematisch ist sie: Nicht allein, dass sie uns eine kritische Selbstbefragung erspart, die sich aufdrängen müsste, wenn wir Anna Politkowskajas hoch gesetzte Maßstäbe an uns selbst anlegten, vielmehr missverstehen wir auch ihre Botschaft, wenn wir sie anhimmeln: Nicht Preise, Auszeichnungen und Aufmerksamkeit für ihre Person wollte Anna Politkowskaja, sondern einen aufrichtigen und engagierten Kampf gegen jene Missstände, über die sie schrieb. Der Tschetschenienkonflikt ist heute nahezu vergessen, die krassen Verwerfungen innerhalb der russischen Gesellschaft scheren uns nicht, aber der Kult um ihre Person wirkt weiter, mit den besten Absichten zugegeben und dennoch nicht zuletzt dem Medienmarktgesetz der sensationellen Personalisierung unterworfen.

Ich mache mir diese Gedanken, weil die Verwandlung Anna Politkowskajas in eine Bühnenfigur unwillkürlich der Gefahr ausgesetzt ist, sie zur bloßen Ikone zu stilisieren und sich mithin der beschriebenen Tendenz des Umgangs mit dem Thema einfach anzuschließen. Ich fand es daher naheliegend, diesen öffentlichen Umgang mit ihrem Fall selbst zum Gegenstand meiner Inszenierung machen. Eine in ihrer Dialektik bestechend klarsichtige Dramatisierung einer ähnlichen Märtyrerlegende findet sich bei Brecht: Die Heilige Johanna der Schlachthöfe, die sich aus echter Anteilnahme und selbstlosem Mitgefühl für die Armen und Unterdrückten einsetzte und sich in deren Namen mit den Mächtigen anlegte, wird letztlich von ebenjenen Mächtigen heiliggesprochen und so um ihre Wirksamkeit gebracht.

Michael Höppner